Corona: Katalysator für Beziehungsprobleme

06.03.2021

Was kann man Paaren in Zeiten der Krise raten, damit sie gut durch die Corona-Pandemie kommen? Außer "Seid lieb zueinander" nicht sonderlich vieles, das für alle Paare gelten könnte. Für einige Beziehungen könnte es sich allerdings lohnen, die Covid-Zeit als Chance zu betrachten.

Unlängst trat ein Journalist an mich heran. Er recherchiere gerade zu einem Artikel für wertvolle Tipps, um mit den Folgen und Auswirkungen eines mittlerweile ganzen Jahres voller Lockdowns, Einschränkungen, Betriebsschließungen, Kontaktverboten, Sorgen und Ängsten umzugehen. Ob ich bemerke, dass seit Beginn der Pandemie vermehrt Paare in die Paarberatung kämen.

"Ja", sagte ich. "Im ersten Lockdown war noch alles wie immer, aber seit den neuerlichen Einschränkungen im Herbst haben die Anfragen für Paarberatungen deutlich zugenommen."

"Fein", meinte er, da könne ich ihm ja kurz einen ganz allgemeinen Tipp geben, was diese Paare jetzt brauchen, um mit den Herausforderungen, die Corona so mitbringt, einen sinnvollen Umgang zu finden. "Mehr als ein Satz soll es bitte nicht sein."

Da ging ich in mich, überlegte und musste den freundlichen Journalisten im Anschluss leider ein wenig enttäuschen. Denn je eifriger ich nach einer seriösen Antwort suchte, um so deutlicher wurde mir: Diesen einen Satz gibt es nicht.

Aber warum?

In der Chemie sind Katalysatoren Stoffe, die eine Reaktion beschleunigen, ohne dabei selbst verbraucht zu werden. Ähnlich fungiert die Corona-Krise für Beziehungsthemen.

Corona als Katalysator: Beschleuniger für Beziehungsthemen

Die Antwort ist ganz einfach: Weil es auch nicht "dieses eine" Problem gibt, mit dem Paare an mich herantreten, und das erst durch die Pandemie aufgetaucht wäre. Viel eher habe ich in meiner Arbeit im vergangenen Jahr festgestellt, dass Corona eine Art Katalysator für Beziehungsthemen zu sein scheint, die Paare auch ohne die Pandemie beschäftigen würden. Katalysatoren kennt man nicht nur in der Welt der Fahrzeuge, sondern auch in der Chemie. In diesem Bereich sind Katalysatoren Stoffe, die eine Reaktion beschleunigen, ohne dabei selbst verbraucht zu werden. In diesem Katalysator-Sinn fungiert auch die Krise bisweilen als Beschleuniger. Themen, die ohnehin mit großer Wahrscheinlichkeit einmal bestimmender Teil des Beziehungsalltags geworden wären, drängen schneller und auch intensiver an die Oberfläche.

Von "Freundschaft Plus" über "Fix zam" bis hin zu belastendem Beziehungsalltag im Rekordtempo.

Nehmen wir Sandra und Julian. Die beiden existieren nicht, aber für unser Beispiel sind sie 24 und 32 Jahre alt. Kennengelernt haben sich die beiden im November 2019. Nach einigen Dates war schnell klar: Das Plus ist zwar super, aber der Teil mit der "Freundschaft" ist ein bisschen zu groß geworden - man wünscht sich Exklusivität. Im Jänner 2020 lernen beide die ersten Freundinnen und Freunde des Gegenübers kennen. Im Februar 2020 – beim Spaziergang zu Sandras Wohnung nach einem gemeinsamen Konzert – macht man aufgeregte Schmetterlingsnägel mit Köpfen. Status: Fix zam! Kurz darauf: Lockdown. Man befürchtet, sich nicht mehr sehen zu dürfen. Wer weiß, wie lange das dauert! Julian verlässt kurzerhand die WG und zieht erstmal zu Sandra. Und bleibt dann ganz. Schon im Juni führen die beiden erhitzte Diskussionen über Verteilungsgerechtigkeit in Sandras Wohnung, darüber, wer wie viel für das Gemeinsame beiträgt, wer welche Socken wo liegen lässt, wer NIE kocht und wer IMMER alleine den Einkauf machen muss.

"Wo hab ich die rosarote Brille hingelegt?" – Beziehungsalltag im Eiltempo

Abgesehen davon, dass gerade solche Socken-Diskussionen häufig stellvertretend für die eigentlichen Themen stehen, an die sich Paare manchmal nicht heranwagen, so sind es dennoch Diskussionen, die viele Paare - so oder so ähnlich - im Laufe ihrer Beziehung führen. Das ist an sich nichts Außergewöhnliches. Außergewöhnlich an der Situation ist schlicht, dass Sandra und Julian noch kein halbes Jahr ein Paar sind. Hat der Ausnahmezustand, der mit Stress, Ängsten, Verlusten und Einschränkungen verbunden ist, diese Themen, Diskussionen und Streitereien ausgelöst? Ich glaube nicht. Ich glaube aber, dass Corona Sandra und Julian um ihre rosaroten Brillen gebracht hat. Zu einem Zeitpunkt, an dem andere Paare früher noch nicht einmal gewagt hätten, das Thema Zusammenziehen anzusprechen, leben die beiden bereits einen beschleunigten, vertieften Beziehungsalltag. Sie lernen sich in einer rasanten Geschwindigkeit, Tiefe und Nähe kennen.

Schwierigkeiten zeigten sich bereits von der Pandemie

Ich erlebe aktuell in der Paarberatung, dass viele Paare zu mir kommen, die sich bei der Terminvereinbarung einig sind, es wäre bisher alles in Ordnung gewesen, doch Corona habe nun so viele Beziehungsprobleme verursacht. Diese wolle man schleunigst wieder beseitigen. Im Erstgespräch schildern mir beide dann die jeweilige Schwierigkeit, die sie im Moment mit der Partnerin und dem Partner erleben.

Auf meine anschließende Frage, wie sich denn diese Schwierigkeit und jenes Problem vor Corona gezeigt habe, hatten erstaunlicherweise bisher alle Paare eine Antwort parat. Und so viel sei trotz Schweigepflicht zu verraten erlaubt: Die Antwort lautete noch nie "gar nicht".

Sofern es also nicht um während der Pandemie erlittene Schicksalsschläge, wie einen existenzbedrohenden Arbeitsplatzverlust, die Folgen einer Covid-Erkrankung oder den Verlust naher Angehöriger und Freunde durch Corona geht, scheint die Pandemie nicht ursächlich an Beziehungsproblemen beteiligt zu sein. Sie legt sie bloß deutlicher frei.

  • Paare, die aufgrund ihrer unterschiedlichen Haltung zu den Corona-Maßnahmen streiten, stellen fest, dass es auch abseits der Pandemie grundsätzliche und belastende Unterschiede in als für beide wichtig erlebten Werten gibt.
  • Paare, die sich wegen der unterschiedlichen Ansichten dazu streiten, wie die Kinder im Homeschooling betreut werden sollen, bestätigen, dass es auch vor der Krise heruntergeschluckte Ärgernisse im Bezug auf die Kindererziehung gab.
  • Paare, die Corona die Schuld daran geben, dass ihre Leidenschaft vollends eingeschlafen ist, bemerken, dass es bereits vor dem ersten Lockdown einen problembehafteten Zugang zur gemeinsamen Intimität und Nähe gab.
  • Paare, die geschlossene Lokale und abgesagte Veranstaltungen verantwortlich dafür machen, sich in der Partnerschaft zunehmend in die Wolle zu kriegen, kennen auch davor schon Tendenzen, unterschiedliche Nähe- und Distanzbedürfnisse unter einen gemeinsamen Hut zu bekommen.
  • Paare, die sich nichts mehr zu erzählen haben, weil sie aufgrund der Pandemie "eh ständig zusammen picken und es nichts Neues zu erzählen" gebe, bemerken, dass es ihnen schon vor der Krise schwer gefallen ist, sich einander wirklich offen anzuvertrauen.

Beziehungsprobleme drängen an die Oberfläche

All diese Themen waren also auch schon vorher da. Aber Ablenkungen und Möglichkeiten des Ausgleichs - wie etwa das gemeinsame Feierabendbier in der Lieblingsbar mit den Arbeitskolleginnen oder der Wellness-Kurztrip mit den Freunden - haben es vor Corona vereinfacht, diese Themen beiseite zu schieben, wenn sie an die Oberfläche drängten. Und diese Themen sind nun einmal so individuell und vielfältig, wie es jedes einzelne Paar ist. Es kann also nicht den "einen Satz" geben, der nun allen Paaren durch die Corona-Zeit hilft. Außer eben vielleicht: "Seid lieb zueinander!"

Beziehungsprobleme durch Corona: Eine Krise wäre keine Krise, könnte man sie nicht auch als Chance betrachten.

Was also tun? Schauen wir dafür doch noch einmal zu Sandra und Julian. Ist es schade um ihre rosarote Brille? Ein bisschen. Vielleicht. Aber eine Krise wäre keine Krise, wenn sie nicht auch als Chance gesehen werden könnte. Das gilt sogar für den raschen Verlust von rosa getönten Brillen und pinken Kontaktlinsen. Sandra und Julian haben so immerhin die Möglichkeit, ein destruktives Muster schon recht früh zu erkennen und es damit zu unterbrechen, bevor es chronisch geworden und vielleicht von vielen anderen – vermeintlich ursächlichen Problemen – überdeckt ist.

Brille ab – offenes Interesse an

Die Corona-Krise ermöglicht aber auch langjährigen Paaren einen ganz klaren Blick auf die zentralen Themen und Probleme, an die sie sich vielleicht bisher in der Beziehung nicht herangewagt haben. Paare, die gemeinsam den Mut fassen, den Blick nun trotzdem zu den ungemütlichen Bereichen der Beziehung zu lenken, brauchen nicht "diesen einen hilfreichen Satz", den sich der Journalist gewünscht hätte. Diese Paare brauchen schlicht die Offenheit, einander neu, interessiert und frei von Interpretationen zuzuhören. Es braucht das Interesse beider Beteiligten, zu erforschen, was jede und jeder selbst dazu beitragen kann, dass das Gewünschte in der Beziehung eintritt. Und dazu braucht es weder die zu Beginn rosa getönte noch die durch die Jahre getrübte Brille. Es braucht einen ganz klaren und unverfälschten Blick auf sich selbst und auf das Gegenüber.


Auf der Suche nach Unterstützung?

Es fällt Ihnen schwer, einander unvoreingenommen zuzuhören? Die Themen und Probleme drehen sich im Kreis? Sie wünschen sich Veränderung im Miteinander, haben vielleicht schon vieles dafür getan, aber nichts ändert sich? Paarberatung kann dabei helfen, problemhafte Muster zu unterbrechen und ein neues Miteinander zu gestalten, das für Sie beide ein schönes ist. 


Fotocredits: Jennifer Vass (3), Hermann & F. Richter, MabelAmber, StockSnap/Pixabay